Ein kleiner Einblick in die Geschichte von Locarno
von Bruno Keller, Locarno, 1995

Veröffentlicht als Gastbeitrag auf der Website www.reisefuehrer-lagomaggiore.de, 2004

 

Locarno
Die historischen Aufzeichnungen über Locarno sind bis zum 9. Jahrhundert äusserst spärlich und fragmentarisch. Dies mag darin liegen, dass es bei der Bevölkerung in und um Locarno seit jeher und bis zu Anfang dieses Jahrhunderts grösstenteils um eine rurale Gesellschaft handelte, die abseits der grossen kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen stand.

Die frühesten Zeugnisse dauerhafter Besiedlungen stammen aus der Stein- und Bronzezeit. Die Funde lassen darauf schliessen, dass vor allem Fischfang, Jagd und Weidewirtschaft die Ernährungsgrundlagen bildeten. Nach Raetiern und Lepontier strömten im 4. Jrh. v. Chr. Kelten und Gallier ins Land. Funde und ligurisch-keltische Inschriften bestätigen, dass Locarno von keltischen Stämmen besiedelt war. So muss der Name Locarno vom keltischen Leukara und der Name Maggia vom ebenfalls keltischen Magia stammen. Beide Namen: Leukara, die weisse, sowie Magia, die grosse, hatten sich wahrscheinlich auf den damals noch ungebändigten und wild reissenden Fluss Maggia bezogen, dessen Kraft soviel Geröll mit sich brachte, um in wenigen Jahrhunderten das Delta anzuschwemmen. Die Leukarni waren die Einwohner, die Locarnesi.

Schon zu Zeiten der keltischen Besetzungen befand sich Locarno unter dem Einzugsgebiet der Stadt Como, die als römische Siedlung Comum von der Raetiern zerstört worden war, und von den Römern unter Caesar im Jahr 89 v. Chr. wieder erobert und aufgebaut wurde. Plinius (gebürtig aus Como) gründete später eine Schule in Como, wodurch die Stadt neben dem politischen auch im kulturellen Bereich Einfluss u.a. auf Locarno nahm.

Como behielt auch in den christlichen Jahrhunderten Bedeutung als geistiges Zentrum, war es doch bis ins letzte Jahrhundert Bischofssitz für das ganze Gebiet des Kantons Tessin. Neben Como werden in römischer Zeit Felder in den Gebieten Muralto, Solduno und Stabio genannt. In Muralto stösst man bei Aushubarbeiten immer wieder auf reiche Spuren einer dichten römischen Besiedlung. Das Zentrum Locarnos lag zu jener Zeit im heutigen Muralto und dort, wo die Kirche San Vittore steht, stand ein römisches Heiligtum des Bacchus. In römischer Zeit muss in Locarno neben Weinbau eine Glasmanufaktur betrieben worden sein, wie aus den Grabfunden zu schliessen ist.

Die christliche Zivilisation beginnt noch bevor das römische Reich zerbröckelt. Gemäss einigen Historikern, so Gian Gaspare Nessi und Pfr Guglielmo Buetti, wurde die Kirche San Vittore in Muralto schon in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts aus den Trümmern des Bacchus-Tempels erbaut und diente Locarno über mindestens 6 Jahrhunderte als einzige Kirche.

Die schwere, ja furchterregende und zerstörerische Zeit, die auf den Zerfall des römischen Reiches und des Einbruchs der germanischen Stämme über den Rhein im Jahr 406 folgte, scheint an Locarno vorbeigegangen zu sein. Durch die Christianisierung im 4. Jahrhundert und die der Kirche sei es von den Römern wie später auch von den eingefallenen Langobarden anvertrauten Aufgabe, ihre kapillarische Organisation politisch auszuwerten, blieb Locarno von den grossen Stürmen der barbarischen Machtnahme verschont. Langobardische Festungen in Locarno, Muralto /San Biagio) und Ascona (S. Materno und S. Michele) sind zwar nachgewiesen, doch handelt es sich dabei um Bauten, die wahrscheinlich erst im 7. Jahrhundert entstanden sind. Die Eroberung der Lombardei durch die Langobarden, die Beherrschung durch die Ostgoten, der oströmische Wiedereroberungsversuch durch byzantinische Heere und die neue Besetzung durch die Langobarden im Jahr 569 scheint Locarno nicht berührt zu haben. Erst nach 200 Jahren, als das langobardische Königreich von Karl dem Grossen dem fränkischen Imperium einverleibt wurde - in einer christianisierten, nach römischem Vorbild organisierten, kultivierten und von der Kirche politisch und organisatorisch unterstützten Gesellschaft -, kam Locarno unter die direkte Herrschaft germanischer, genau genommen fränkischer Grafschaften. Relativ friedlich, also ohne Barbarei, ohne Verschleppungen und Sklaverei, Hinrichtungen, Plünderungen und Vergewaltigungen, wie es bei den anfänglichen Einfällen germanischer Stämme ins römische Reich üblich war.

Im Jahr 866 schenkt Ludwig II (Ludwig der Deutsche), Enkel Karls des Grossen, seiner Frau Angilberta verschiedene Grafschaften; darunter fällt Stazzona (Angera) mit Locarno. Nach Angilbertas Tod geht Locarno unter das Zepter Mailands.

1004 annektiert Heinrich II Locarno wiederum dem Bistum Como, unter Erzbischof Landolfo da Carcano (ein Schloss Carcani bestand auch in Ascona); Carcano berief die Familie der De Besozzo, langobardischer Herkunft, die Herrschaft über Locarno zu übernehmen. Allerdings ohne "Dominus Loci", d.h. ohne Besitzabtretung über Locarno.

Kennzeichnend für die ständigen Wechsel der Herrscher über Locarno sind die bis ins 16. Jahrhundert dauernden Machtkämpfe zwischen den "Guelfi" (Anhänger der weltlichen Macht) und den "Ghibellini" (Anhänger der geistlichen Obrigkeit).

Eine bedeutende Wende kommt in Locarno im Jahr 1021. Drei fränkische Brüder adligen Standes des fränkischen Hofs Ludwigs flüchten wegen einer galanten Familienangelegenheit, die ihr Leben bedroht, in die Lombardei. Die Brüder hiessen Aurelius, Landolf und Vivian. Während ihrer Flucht lassen sich Aurelius und Landolf in Locarno nieder, Vivian weilt einige Zeit in Mainz, um später die Brüder in Locarno zu erreichen. In der Umgangssprache hiess Aurelio, der ältere, bald Orello. Er baute auf den Ruinen der langobardischen Festung an der Stätte des heutigen Schlosses von Locarno seine Festung und Behausung: Das Schloss der Orelli. Sein Bruder Landolf erbaute im heutigen Muralto ein Schloss mit sehr hohen Mauern, in der Nähe des Sees, ungefähr dort, wo heute das Hotel Beaurivage liegt. Von diesem Schloss sind wenige Ruinen übriggeblieben und kaum zu erkennen, da sie später in neuere Gebäude einverbaut wurden. Genannt wurde der Palast der "muri alti" und daraus entstand der Familienname Muralti. Vivian zog erst später nach. Seiner Bleibe in Mainz (ital. Magonza) nach wurde seine Familie bald mit dem Namen der "Magonti" und "Magoria" benannt. Ihren Palast erbauten sie auf der heutigen Piazza Grande; es ist der später wieder aufgebaute und noch heute bestehende "Palazzo Magoria".

Im Jahr 1041 hält sich Herzog Otto von Sachsen für kurze Zeit in Bellinzona und Locarno auf und teilt den fränkischen Gebrüdern Locarno als Lehngut zu.

Im Jahr 1186 erteilt Kaiser Friedrich I (Barbarossa) Locarno die Unabhängigkeit von allen Grafschaften, insbesondere der Comos, als Freistadt. Somit wird Locarno direkt dem Königreich unterstellt und auch von Kriegsdienstpflichten befreit. Ein Privileg seltener Art, das sicher aus dem Umstand erwuchs, dass Locarno abseits der Kommunikationswege zwischen Milano und dem Norden, d.h. von dem von Como besetzten Gebieten des Sottoceneri lag und neue ungestörte Verbindungswege über den Lago Maggiore bot. Die politische Organisation Locarnos entsteht für jene Zeit auf erstaunlich demokratischem Weg: auf zwei politischen Ebenen, einer dualistischen Verwaltungsstruktur, auf der einen Seite die Capitanei, eine bürgerlich konsortil geregelt Gesellschaft von Bürgern, und andererseits die Orelli, Muralti und Magoria. Beide Gruppen waren zum Einzug des Zehnten als Nutzung der Ländereien sowie zu adäquat verteilten Sitzen im Rat berechtigt. Die Capitanei, also die Burger, bekleideten die Ämter niedriger Offiziere und Richter. Um diese Zeit endet in der Lombardei auch der Einfluss der deutschen Machthaber mit dem Zerfall des fränkischen Reichs.

Um das Jahr 1229 entsteht die zweitälteste Kirche in Locarno, San Francesco, mit von S. Fransceso da Padova gegründetem Kloster (es muss noch eine ältere Kirche gegeben haben, San Giorgio, die im 15. Jahrhundert von einer Überschwemmung zerstört und nicht wieder aufgebaut wurde.)

Im Jahr 1249, nach einem 10-jährigen Krieg zwischen Como und Mailand, fällt Locarno wiederum unter eine sehr strenge Herrschaft Comos. 1262 ernennt Papst Urban IV Ottone Visconti zum Erzbischof von Mailand. Der Locarneser Feldherr Simone Orello (die Strasse via Simone da Locarno trägt heute seinen Namen), der im Dienst von Como steht, wird in Milano festgenommen und schmort 12 Jahre lang in einem Käfig, aufgehängt an den Festungsmauern Mailands.

Durch die Eröffnung des Gotthardweges im 13. Jrh. gerät das Tessin ins Spannungsfeld europäischer Grossmachtinteressen.

1262 steht Locarno in Flammen: Die Mailänder unter der Führung von Giordano Rusca da Lucino erobern die Stadt.

1276 erstürmt der wieder befreite Simone Orelli mit einer Seeflotte Arona und bringt erneut die Herrschaft Comos über die Gebiete des Lago Maggiore.

1342 erobern die Viscontis, Beherrscher Mailands, mit Landstreitkräften sowie einer mächtigen Schiffsflotte, darunter die imposanten "Ganzerre", Galeeren mit je 50 Rudern und einer Besatzung von je 500 bis 600 Kriegern, unter der Führung von Luchino und Giovanni Visconi (später Erzbischof von Mailand) Locarno. Das Schloss der Orelli wird eingenommen. Locarno fällt unter die Gewalt Mailands, kontrolliert über den Seekapitän von Pallanza. Visconti lässt das Schloss vergrössern und befestigen. Das so entstandene Schloss der Visconti hatte verschiedene Türme und war von einem Graben umzäunt; es hatte Anstoss an die Ausläufer der Maggia und den See, mit einem Hafen für die Schiffe. Einige noble Familien Locarnos, darunter einige Orellis, wurden nach Mailand deportiert.

Aus den Jahren 1403 bis 1406 wird von Aufständen der Täler (der Vallis Madiae, Verzasche und Mergossie) berichtet, die es leid sind, der Grafschaft Locarno hohe Abgaben zu zahlen. Dem Maggiatal gelingt es, sich von Locarno zu lösen.

Inkursionen der Schweizer in die Täler des Tessins in den Jahren 1411 und 1412 und die erneuten, von den Viscontis in Arbedo zurückgeschlagenen Attacken von 1422 gehen an Locarno schonend vorbei.

Im Jahr 1439 ernennen die Viscontis Graf Loterio Rusca zum Statthalter von Locarno, als Entschädigung für die Rückgabe Comos, das sein Vater, Franchino, im Jahr 1408 den Viscontis entrissen hatte. Nach Loterios Tod herrscht Franchino II, sein Sohn, über Locarno. Ihm schreiben wir den weiteren Ausbau des Schlosses, das unter ihm zu einer uneinnehmbaren Festung wurde, zu. Franchinos Versuch, Como zurückzuerobern wurde von den Mailändern zerschlagen. Rusca musste sich im Schloss Locarno zurückziehen, wurde von den Mailändern belagert. Sein Glück kam durch den inzwischen ernannten Grafen von Mailand, Francesco Sforza, der Rusca, ein alter Kriegskumpan, als Grafen über Locarno bestätigte.

Unter Pietro Rusca kam es 1485 zum Bau der Madonna del Sasso, nachdem (1480) dem Mönch Bartolomeo da Ivrea die Jungfrau Maria erschienen war.

1502 bestürmt ein Heer von 18'000 Schweizern die Stadt Locarno, ohne aber das Schloss einnehmen zu können. Die Stadt wird allerdings geplündert.

Zehn Jahre später besetzen die Schweizer Mailand in einem Kampf gegen die Franzosen, kämpfen in Novara und in der schrecklichen Schlacht von Marignano, die sie verlieren. Vom französischen Franz I, Nachfolger Ludwigs XII, erwirken sie 1516 die Aushändigung von Locarno, zusammen mit übrigen Gebieten des Tessins. Hier endet die Herrschaft der Rusca.

Mit dem Friedensvertrag von Fribourg mit den Franzosen im Jahr 1516 wird Locarno als Schweizer Besitz anerkannt. 1518 schleifen die Schweizer das Schloss bis auf einen kleinen Teil, der als Sitz des Landvogtes und als Gefängnis diente. Ebenfalls zerstört wurden die Festungen Muralto, San Biagio sowie Sand Materno und San Michele in Ascona. Das gleiche Schicksal erfuhren übrigens fast alle Festungen des Tessins, ausser Bellinzona.

Gegen Mitte des 16. Jrh. erlebte Locarno die Gründung einer lebendigen evangelischen Gemeinde, doch wurde die Reformation im Keime erstickt. Reformierte Familien, wie die Orellis und die Muralti, insgesamt 150 Bürger, wurden zur Auswanderung gezwungen und flüchteten anno 1555 nach Zürich. Daher finden wir noch heute in der deutschen und französischen Schweiz Geschlechter Namens Orelli, von Orelli, Muralt, Muralti, von Muralt und de Muralt, teils illustre Persönlichkeiten. Die Verwaltung durch die Landvogte dauert bis zum Jahr 1798.

Auf die französische Revolution folgt die Besetzung der Lombardei durch die französischen Heere. Die Cisalpine Republik wird ausgerufen. Die Südschweiz ist im Aufruhr (Movimento Liberi e Svizzeri) und im selben Jahr 1798 wird eine provisorische Tessiner Regierung gebildet. Nach einer anfänglichen Lösung über zwei Kantone, Bellinzona und Lugano, verleiht Napoleon 1803 dem Tessin mit der Mediationsakte die Würde eines eigenständigen Kantons, als definitiver Bestandteil der Eidgenossenschaft. Bis 1881 wird auch Locarno abwechselnd mit Lugano und Bellinzona Kantonshauptstadt.

 

Quellenverzeichnis:

- Monumenti d'Arte e di Storia della Svizzera, Canton Ticino I, V. Gilardoni;
- Memorie Storiche di Locarno, G.G. Nessi;
- Note Storiche Religiose, G. Buetti;
- Ticino Medievale, Vismara-Cavanna-Vismara;
- Tessiner Reiseführer, ETT;
- Polyglott Reiseführer Tessin;
- Die Geburt Europas, G. Simons;
- Kleine Geschichte des Kantons Tessin, E. Merz.

 

Bauten

- Schloss (Castello Visconti), Hof aus dem 15. Jrh., (Giovanni Rusca). Fresko in der Art des Luini (Bernardino Luini 1481-1532) im Treppenhaus, geschnitzte Holzdecken; heute in Museum: Ausgrabefunde aus der Römerzeit (u.a. Gassammlung); ferner Reste romanischer Skulpturen aus San Vittore. Hans-Arp-Sammlung.
- Kirche San Francesco, Chor und Kuppel 14. Jrh. Schiff von 1528, Fassade 1538. Daneben ehemaliges Franziskanerkloster (1848 aufgehoben). Im Refektorium Fresken (u.a. Abendmahl) von Baldassare Orelli, 18. Jrh. Gegenüber dem Hauptportal der Kirche Grabmahl des Giovanni de Orello (+1352).
- Kirche S. Antonio. Bestehender Bau 1668-1674. Im nördlichen Querschiff "Kreuzabnahme" von Giovanni Antonio Orelli. 1863 stürzte das Dach ein und riss 45 Gläubige in den Tod.
- Kirche Santa Maria in Selva (Langhaus 1884 abgebrochen). Chor und Turmreste der 1425 geweihten Kirche. Bedeutende spätmittelalterliche Fresken.
- Casa del Negromante. Ausstattung um 1500 und im frühen 16. Jrh. War Treffpunkt der adligen Bürger im 16. Jrh.
- Chiesa Nuova, 1636 geweiht. Barockfassade mit Standbild des Christophorus. Anschliessend Casa dei Canonici, früher Palazzo Orelli. Arkadenhof 17. Jrh.,
- Kirche San Vittore. Alter Teil vermutlich aus dem 4. Jrh. Dreischiffige Pfeilerbasilika. Auf dem Turm Relief des hl. Viktor (v. Martino Benzoni, 1462), das aus dem Schloss stammt.